Worum geht es bei dem Streit: Die Pestizidverordnung 1107/2009 der EU schreibt vor, dass ein Pestizidwirkstoff von der EU-Kommission beim ersten Antrag für zehn Jahre genehmigt wird. Drei Jahre vor Ablauf der Genehmigung muss der Hersteller eine Wiederzulassung beantragen. Die Behörden prüfen die neuesten Erkenntnisse zu dem Wirkstoff und wenn sie weiterhin als sicher ansehen, kann die EU ihn für bis zu 15 Jahre erneut zulassen. Doch bei zahlreichen bedenklichen Wirkstoffen kommen die Behörden mit diesen erneuten Risikoprüfungen nicht hinterher. Die EU-Kommission beruft sich deshalb regelmäßig auf eine Ausnahmeregelung und verlängert einfach die alte Zulassung, oft mehrfach hintereinander und über mehrere Jahre.
Im Falle des umstrittenen Herbizidwirkstoffs Glyphosat wäre die Genehmigung am 15. Dezember 2022 ausgelaufen. Zu diesem Zeitpunkt war die erneute Risikoabschätzung durch die EU-Lebensmittelbehörde EFSA und die EU-Chemikalienagentur ECHA noch nicht abgeschlossen. Dies geschah erst im Sommer 2023. Die EU-Kommission berief sich deshalb im Dezember 2022 auf Artikel 17 der Pestizidverordnung und verlängerte die auslaufende Genehmigung um ein Jahr bis Ende 2023. Kurz vor Ablauf dieser Frist erneuerte die Kommission dann die Genehmigung für zehn Jahre bis Ende 2033. Die Aurelia-Stiftung hatte gegen die erste, einjährige Fristverlängerung eine Beschwerde eingelegt, die von der EU-Kommission abgelehnt wurde. Gegen diese Ablehnung zog Aurelia vor das Europäische Gericht (EuG, T-565/23) und bekam Recht. Parallel entschied das EuG zwei weitere Verfahren im Sinne der Klagenden. Das Pestizidaktionsnetzwerk PAN Europe hatte geklagt, weil die EU-Kommission die Zulassung für das Fungizid Dimoxystrobin siebenmal über insgesamt zehn Jahre verlängert hatte, bevor sie den Wirkstoff 2024 aus dem Verkehr zog (T-412/22). Die französische Umweltorganisation Pollinis zog gegen das Fungizid Boscalid vor das EuG. Dessen Genehmigung hatte die EU-Kommission seit 2018 sechsmal verlängert, zuletzt bis 15. Mai 2026 (T-94/23). In allen drei Fällen argumentierte die EU-Kommission, dass die für eine erneute Genehmigung notwendige Risikobewertung noch nicht abgeschlossen sei und die Verzögerung nicht von den Antragstellern zu verantworten sei.
Das EuG betont in seinen drei Entscheidungen, dass eine Verlängerung nach Artikel 17 der Pestizidverordnung vorläufiger Natur sei und Ausnahmecharakter habe. „Sie muss im Hinblick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls vorgenommen werden und darf daher nicht automatisch oder systematisch erfolgen“, heißt es in der Mitteilung des Gerichts. Zudem komme eine Verlängerung nicht in Frage, wenn der Hersteller selbst dazu beigetragen habe, dass sich das Verfahren verzögere, etwa „wenn sich die Qualität der vorgelegten Daten als unzureichend erweist“, schreibt das Gericht. Deshalb müsse die EU-Kommission die Rolle der Antragsteller bei den aufgetretenen Verzögerungen objektiv und konkret prüfen. Genau das hat sie nach Ansicht des Gerichts bei der Glyphosatverlängerung nicht getan.
Die EU-Kommission hatte argumentiert: Wenn ein berichterstattender Mitgliedstaat einen Verlängerungsantrag und die ergänzenden Dossiers dazu für zulässig erachte, bedeute dies, dass der Antrag vollständig sei. Ersuchen um zusätzliche Informationen seien ein normaler Teil des Erneuerungsverfahrens. Damit hat es sich die EU-Kommission aus Sicht des EuG zu einfach gemacht. Deren Erläuterungen „deuten darauf hin, dass sie weder die Art der fehlenden Informationen noch die Relevanz der im vorliegenden Fall vorgelegten Informationen geprüft hat“, heißt es in der Entscheidung. Zudem habe die Kommission, die von der Klägerin gerügten Datenlücken in den Antragsunterlagen und deren Auswirkungen auf die Dauer des Verfahrens nicht geprüft. Allein dieser Rechtsfehler genügte den Richter:innen, um der Aurelia Stiftung Recht zu geben. „Das EU-Gericht beendet die verheerende Praxis der EU-Kommission, die hunderte Pestizidwirkstoffe allein durch Ausnahmegenehmigungen am Markt und damit auf dem Acker hält“, kommentierte Thomas Radetzki, Vorstandsvorsitzender der Aurelia Stiftung. Allerdings hat die EU-Kommission noch bis Mitte Januar Zeit, gegen die Entscheidung Rechtsmittel beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einzulegen.
In seinen drei Urteilen weist das EuG explizit darauf hin, dass die Bestimmungen der EU-Pestizidverordnung „ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt“ gewährleisten sollen. „Dieser Schutz hat vorrangige Bedeutung gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen, so dass er sogar beträchtliche negative Folgen wirtschaftlicher Art für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann“, heißt es im Glyphosaturteil. In der Abwägung der verschiedenen Ziele der Pestizidverordnung müsse die Kommission deshalb diesem Schutzziel „ganz besondere Bedeutung beimessen“. Wichtig ist diese Klarstellung im Hinblick auf mehrere Verfahren, bei denen Umweltverbände gegen bestehende Wirkstoffgenehmigungen vor das EuG gezogen sind. So klagt die Aurelia-Stiftung zusammen mit der Deutschen Umwelthilfe dort auch gegen die erneuerte Glyphosatzulassung bis 2033 (T-578/24).
Die EU-Kommission dagegen will die EU-Pestizidverordnung ändern und dabei dieses hohe Schutzniveau schleifen. Bereits im September hatte sie ihre Pläne vorgestellt, das Recht für Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit zu vereinfachen. Omnibus heißen solche Vereinfachungspakete, die mehrere EU-Verordnungen betreffen, im EU-Jargon. Bei der groben Beschreibung des Vorhabens im September war lediglich von dem Bereich „Zulassungs- und Verlängerungsverfahren für Pflanzenschutzmittel“ die Rede. Vorstellen will die EU-Kommission ihr Omnibuspaket am 16. Dezember, doch inzwischen wurden der Entwurf bekannt. Die EU-Kommission plane, „die Zulassungsdauer für in Pestiziden verwendete Wirkstoffe grundsätzlich unbefristet zu gestalten – mit Ausnahme bestimmter besonders gefährlicher Substanzen“, berichtete die Plattform Euractiv und veröffentlichte den ihr zugespielten Verordnungstext. Dieser Vorschlag „wird den Schutz der Gesundheit der Bürger und der Umwelt vor giftigen Pestiziden erheblich schwächen und gleichzeitig den Interessen der Pestizidindustrie dienen“, kommentierte Martin Dermine, Geschäftsführer von Pan Europe. Das Umweltinstitut München hat eine Mailaktion gestartet, um der EU-Kommission eine Botschaft zu senden: „Hände weg von unseren Schutzstandards!“ [lf]